Dem Vektor auf der Spur - Zehntes Gespräch über Vektoren

D: Hurra! Ich habe es herausbekommen, und das ganz ohne fremde Hilfe. Ich musste an Pythagoras denken, welcher der Legende nach eine Hekatombe Ochsen geopfert hat, als er seinen berühmten Satz entdeckt hatte, und habe eine kurze Zeit lang mein Meerschweinchen mit ganz anderen Augen angesehen, aber dann habe ich mich doch auf das Abbrennen eines Räucherstäbchens beschränkt, obwohl mir nach Größerem zumute war. Irgendwie war es am Ende ganz einfach; der Tipp, dass ich das Assoziativgesetz verwenden sollte, hat mir den Durchbruch gebracht, denn dann war ja klar, dass mit drei Summanden zu arbeiten war, - und es gibt bei dem Beweis ja nur drei Vektoren, die untersucht werden.

A: Also mal langsam, ich weiß gar nicht mehr genau, an welchem Punkt wir angelangt waren; mir ist nur noch in Erinnerung, dass wir unser letztes Gespräch mit einem Gedicht von Gottfried Benn beendet haben.

D: Es ging doch darum, dass es zu einem Vektor a nicht zwei verschiedene Gegenvektoren geben kann, also dass für drei Vektoren a, b, c des gleichen Vektorraums aus der Tatsache, dass a und b Gegenvektoren sind und dass a und c Gegenvektoren sind, zwingend folgt, dass b und c gleich sind.

A: Was meinst du mit "zwingend folgt"? Gibt es denn auch noch andere Möglichkeiten des Folgens?

D: Nein, natürlich nicht, aber ist es denn falsch, wenn ich die unerbittliche Strenge einer mathematischen Folgerung mit einem entsprechenden Adjektiv unterstreiche? Du willst mich wohl mit pedantischen Fragen vom ersten Trumph abhalten, wenn ich nach neun Gesprächen die Maske des Trottels abwerfe?

A: Manchmal ist im Leben der Augenblick der Demaskierung schrecklicher als der Anblick der Maske, aber leg einfach mal los.

D: Wir wissen, dass sowohl a und b als auch a und c Gegenvektoren sind, dass also die beiden Gleichungen a+b = o und a+c = o erfüllt sind.

A: Das ist korrekt.

D: Dann ist die folgende Gleichungskette richtig, aus der sich b = c ergibt:

b = b + o = b + (a + c) = (b + a) + c = o + c = c .

A: Ich bin beeindruckt! Du hast die wirklich geschickt die erforderlichen Voraussetzungen verwendet: Dass o der Nullvektor ist, dass sowohl a und b als auch a und c jeweils Paare von Gegenzahlen sind, dass das Assoziativgesetz gilt. War das nun ein besonders einfacher oder ein besonders schwieriger Beweis?

D: Eigentlich beides; was mich dabei allerdings ärgert: Jetzt sehe ich überhaupt nicht mehr, wo bei der Suche nach dem Beweis die Schwierigkeit gelegen hat, aber vorher - ich kann es dir ja im Vertrauen sagen - habe ich fast eine schlaflose Nacht nach langem, langem Probieren gehabt. Ist das bei allen Beweisen in der Mathematik so?

A: Du wirst in Kürze Gelegenheit haben, das zu testen. Jetzt lass uns zunächst einmal die Ergebnisse zusammenstellen. Wir haben fünf Tests, die eine Menge, in der eine als Addition bezeichnete Verknüpfung bestehen muss, ...

D: ... um dann den stolzen Namen Vektorraum führen zu dürfen.

A: Langsam, langsam! Zum Vektorraum gehört, wie du weißt, ja noch eine zweite Verknüpfung; auch für die werden bestimmte Eigenschaften verlangt. Aber für die Addition haben wir zunächst die folgenden Bedingungen: Je zwei Elementen der Menge wird durch diese Addition auf eindeutige Weise ein Element der Menge zugeordnet, das wir dann als Summe der beiden Elemente bezeichnen. Es gelten Kommutativ- und Assoziativgesetz. Es gibt ein bezüglich der Addition neutrales Element. Wir haben gezeigt, dass es dann kein weiteres neutrales Element geben kann, und dieses somit eindeutig bestimmte Element als Nullvektor o bezeichnet. Und schließlich wird noch verlangt, dass es zu jedem Vektor a einen Vektor b mit der Eigenschaft gibt, dass die Summe von a und b der Nullvektor ist. Und heute hast du bewiesen, dass es dann zu a genau einen solchen Vektor b gibt; wir dürfen daher sagen: Hier ist b der Gegenvektor von a.

D: Kann man "Gegenvektor von a" nicht abkürzen, z.B. Ggvktr(a)?

A: Viel kürzer: Wir schreiben einfach -a.

D: Genial, klar und einfach!

A: Wenn es so einfach ist, was ist denn dann -(-a); und was ist -(a+b)? Löse doch bitte mal in beiden Ausdrücken die Klammern auf.

D: Darf ich benutzen, dass minus mal minus plus ist? Und gilt die Regel aus der Klasse 7, dass sich beim Auflösen einer Klammer, vor der ein Minuszeichen steht, alle Vorzeichen in der Klammer umkehren?

A: Es gilt, was vorausgesetzt wird und was bewiesen worden ist. Regeln, die du zudem noch ohne Beweis gelernt hast, geben allenfalls eine Idee für das Ergebnis. Außerdem: Was hat das Zeichen für "Gegenzahl von" mit dem Minuszeichen zu tun, außer dass es genau so aussieht, und wo wird hier multipliziert?

D: Dann gebe ich die Frage einfach zurück: Was ist denn nun -(-a) und was ist -(a+b)?

A: -(-a) ist das gleiche wie a und -(a+b) = -a + (-b) .

D: Also doch genauso wie beim Rechnen in den reellen Zahlen.

A: Das muss in den reellen Zahlen so sein, weil sie auch einen Vektorraum bilden, aber warum gilt diese Regel in jedem Vektorraum?

D: Ich weiß es nicht. Sag mir warum, und dann lass uns das Gespräch beenden, damit ich mich zum Schämen zurückziehen kann.

A: Dazu wirst du keinen Anlass haben, denn du findest den Beweis selbst. Was ist nach der Definition -a?

D: Der Gegenvektor von a.

A: Und was ist der Gegenvektor von -a?

D: Natürlich a - oder in der Schreibweise für "Gegenvektor von" -(-a). Augenblick mal, also sind sowohl a als auch -(-a) Gegenvektoren von -a, ... und weil der Gegenvektor eindeutig bestimmt ist, muss -(-a) der gleiche Vektor wie a sein. Also gilt -(-a) = a. Das war jetzt auf einmal leicht.

A: Und wie zeigst du die Richtigkeit von -(a+b) = -a + (-b) ?

D: Zwei Vektoren sind Gegenvektoren zueinander, wenn ihre Summe der Nullvektor ist. Ich soll zeigen, dass -a + (-b) der Gegenvektor zu a+b ist. Das bedeutet: ich muss nur zeigen, dass die Summe der Nullvektor ist.

-a + (-b) + a + b = -a + a + (-b) + b = o + o = o .

Dabei habe ich die Summenklammern von Anfang an weggelassen, weil das Assoziativgesetz gilt, und dann zuerst das Kommutativgesetz angewendet, danach dann ausgenutzt, dass die Summe eines Vektors und seines Gegenvektors den Nullvektor ergibt.

A: Perfekt. Damit haben wir die Addition so gut wie komplett in der Tasche und bekommen nun die Subtraktion auf silbernem Tablett dazu geliefert.

D: Das bedeutet, dass nun noch eine weitere Operation definiert werden muss?

A: Wir müssen nur eine zusammen mit der Addition gelieferte Operation aus der Verpackung schälen. Wir definieren für beliebige Vektoren a, b:

a - b := a + (-b) .

D: Haben wir jetzt wirklich eine Verknüpfung definiert oder nur einfach Klammern weggelassen?

A: Wir haben eine Subtraktion definiert. Das als Symbol für "Gegenvektor von" eingeführte Zeichen sieht zwar aus wie das Minuszeichen, hat aber zunächst doch mit Subtrahieren nichts zu tun.

D: Wenn wir diese Subtraktion im Augenblick nicht brauchen, würde ich lieber zum Abschluss der Vektorraumdefinitionen kommen. Denn wenn ich es richtig sehe, vermischst du im Augenblick die definierenden Eigenschaften und die Folgerungen aus diesen Eigenschaften miteinander.

A: Dann werden wir den Rest der Vektorraumeigenschaften, also die Eigenschaften der Multiplikation sowie die Eigenschaften, die Multiplikation und Addition betreffen, ein einem einzigen Gewaltstreich zusammenstellen, so dass danach der Vektorraum mit allen definierenden Eigenschaften transparent wie eine Seifenblase vor unserem geistigen Auge schwebt.

D: Ich habe heute zum ersten Mal das Gefühl gehabt, dass ich mathematische Zusammenhänge so richtig verstehe. Bitte bring dieses gute Gefühl nicht in Gefahr und lass es mich zunächst einige Zeit auskosten.

A: Also dann bis zum nächsten Mal. Bring eine Flasche Sekt mit, denn dann werden wir einen wichtigen Abschnitt zu feiern haben. Wir kennen dann den Vektorraum und fassen bald schon die nächste Phase ins Auge: Die Beherrschung des Vektorraums.

Ende des zehnten Gesprächs über Vektoren.