Dem Vektor auf der Spur - Zwölftes Gespräch über Vektoren

A: Nun, hast du dir inzwischen überlegt, dass 0.a = o für jeden Vektor a eines Vektorraums gilt?

D: Ich habe zwar kein Gegenbeispiel gefunden, aber das will bei den wenigen Vertretern von Vektorräumen, die wir bis jetzt kennen, nichts heißen. Ich bezweifle nach wie vor, dass man die Richtigkeit dieser Gleichung beweisen kann.

A: Dann wollen wir eben kurz den Beweis führen. Bist du damit einverstanden, dass wir das Ergebnis der Berechnung von 0.a mit b bezeichnen?

D: Natürlich; wir müssten dann herausbekommen: b = o.

A: Richtig. Überlege mit mir, dass bei der folgenden Kette von Gleichungen jedes Gleichheitszeichen entweder aufgrund unserer Festlegung von b oder in Folge der Vektorraumeigenschaften zu begründen ist:

o = (-b) + b = -b + 0.a = -b + (0+0).a = -b + (0.a + 0.a) = -b + (b + b) = ( -b + b) + b = o + b = b .

D: Verblüffend. Aber kann man nicht auf ähnliche Weise beweisen, dass für jeden Vektor a die Gleichung 1.a = a gilt?

A: Das ist doch ohnehin eine der verlangten Grundeigenschaften des Vektorraums.

D: Ich meine, ob man nicht auch auf diese Forderung verzichten und sie stattdessen aus den anderen Eigenschaften folgern kann.

A: Leider folgt 1.a = a nicht aus den anderen Vektorraum-Axiomen, wie Forderungen dieser Art für ein mathematisches Objekt genannt werden. Da wir aber andererseits nicht darauf verzichten wollen, dass die Multiplikation mit der reellen Zahl 1 nichts verändert, müssen wir dies in einem eigenen Axiom fordern.

D: Da habe ich offenbar wirklich auf die falschen Pferde gesetzt. Und mein Naturraum, in dem die Elemente die Teiler von 1024 und die "Addition" die ggT-Bildung ist, scheitert ja angeblich schon mit der Addition bei seiner Bewerbung um das den Titel Vektorraum. Warum eigentlich? Abgeschlossenheit bezüglich der Addition liegt doch vor, Kommutativ- und Assoziativgesetz gelten, und mit 1024 hatten wir auch ein neutrales Element gefunden.

A: Und was ist das Gegenelement zu, sagen wir 8?

D: Das ist die Zahl aus der Menge {1, 2, 4, 8, 16, 32, 64, 128, 256, 512, 1024}, die zu 8 "addiert" das neutrale Element, also 1024 ergibt. Wenn wir diese gesuchte Zahl mit x bezeichnen, muss also die Gleichung ggT(8, x) = 1024 erfüllt sein.

A: Und warum kann es eine solche Zahl x nicht geben?.

D: Weil ein Teiler einer positiven ganzen Zahl nicht größer sein kann, als die Zahl selber, also alle Teiler von 8, und somit auch der größte gemeinsame Teiler von 8 und x nicht größer als 8, also nicht 1024 sein kann.
Damit ziehe ich meinen Naturraum offiziell aus der Vektorraumkandidatenliste zurück.
Schade! Das war das einzige Beispiel, wo ich das "sogenannte" bei der Bezeichnung "sogenannte Addition" verstanden habe. Beim Goetheraum ist die im verwendete Vektoraddition doch das, was man rein intuitiv ohnehin als Addieren bezeichnen würde. Hast du nicht ein Beispiel parat, wo in einem Vektorraum die Addition ganz anders aussieht, als der Name vermuten lässt?

A: Seltsam, die meisten beklagen sich, wenn die Begriffe in der Mathematik nicht genau dem entsprechen, was die an der Umgangssprache orientierte Vorstellung liefert, und du wünscht ausgerechnet ein Beispiel dafür, wo hier eine möglichst große Diskrepanz auftritt?

D: Eigentlich möchte ich nur, dass du zugibst, so etwas nicht zu kennen: Eine Addition, die nicht aussieht wie eine Addition und dann möglichst auch noch eine Multiplikation mit reellen Zahlen, die auch nicht wie eine Multiplikation aussieht, sind wohl kaum in einem konkreten Fall darstellbar.

A: Also gut, dann nehmen wir als Vektoren die positiven reellen Zahlen.

D: Einspruch, Euer Ehren! So viel habe ich nun doch schon verstanden. Du scheiterst hier doch schon daran, dass die positiven Zahlen kein neutrales Element bezüglich der Addition haben.

A: Na und? Wir wählen als "Addition" eben eine Verknüpfung, bezüglich derer die Menge M der positiven reellen Zahlen abgeschlossen ist und ein neutrales Element enthält. Wir definieren zum Beispiel als Vektoraddition die normale Multiplikation; für zwei reelle Zahlen a, b setzen wir also a + b := ab .

D: Und alle Forderungen an den Vektorraum sind erfüllt?

A: Prüfen wir es nach: Die Verknüpfung liefert offensichtlich wieder positive reelle Zahlen, sie erfüllt Assoziativ- und Kommutativgesetz und hat auch ein neutrales Element: o = 1; denn für jedes a aus M ist doch o + a = 1a = a. Und Gegenvektor zu a ist offensichtlich 1/a, dann a + 1/a = a . 1/a = 1 = o.

D: Ich merke, dass das jetzt wohl nur noch etwas für die ganz Hartgesottenen ist. Kennst du übrigens das Lied von Cissy Kraner über die verzwickten Verwandschaftsverhältnisse, bei denen der Onkel gleichzeitig der Neffe und Cissy am Ende ihre eigene Großmutter ist?

A: Selbstverständlich! Auf der gleichen Langspielplatte hat sie doch vielfältig dargestellt, dass der Nowak sie nicht verkommen lässt, und das auf so viele Weisen, dass die Platte indiziert wurde.

D: Hört sich spannend an; kannst du mal einiges davon beschreiben?

D: Was ich jetzt beschreibe, das ist die Multiplikation in unserem exotischen Vektorraum M der positiven reellen Zahlen.

D: Und wie soll das gehen? Wir haben doch die bürgerliche Multiplikation schon als Vektorraumaddition verbraucht.

A: Die Multiplikation mit reellen Zahlen definieren wir durch r * a := ar.

D: Aber dann gelten doch weder das assoziativartige noch die beiden distributivartigen Gesetze.

A: Prüf es doch einfach nach:

(r s) * a = ars = asr = (as)r = r * (s * a), also ist das assoziativartige Gesetz erfüllt.

(r + s)* a = ar+s = ar . as = r * a + s * a , also gilt das erste distributivartige Gesetz.

r * (a + b) = (ab)r = ar . br = r * a + s * a , also gilt auch das zweite distributivartige Gesetz.

Und schließlich ist auch die letzte Bedingung erfüllt, denn 1 * a = a1 = a .

D: Ich glaube, ich träume. Bringst du das deinen Schülern bei, ohne dass sie in Streik treten, weil sich ihnen der Kopf dreht? Es gibt doch sicher auch eine von dir anerkannte Grenze der Leidensfähigkeit.

A: Natürlich bist du der einzige, der von mir exklusiv Einblick in diesen Vektorraum erhielt, - und auch das nur auf deinen ausdrücklichen Wunsch hin. Was du davon behalten sollst, ist nur, dass die Addition ebenso wie die Multiplikation mit reellen Zahlen im Vektorraum durchaus auf unübliche Weise definiert werden kann, auch wenn es sich bei den Vektoren selbst um vertraute Objekte unseres Rechnens handelt. Meistens ist es allerdings umgekehrt: Die Vektoren sind die neuen Objekte und die Addition und Multiplikation lehnen sich an vertraute Rechenoperationen gleichen Namens an.

D: Dann sehe ich den kommenden Dingen wieder etwas optimistischer entgegen. Also ich weiß jetzt, was ein Vektor ist, weil ich verstanden habe, welche Bedingungen einen Vektorraum ausmachen. Und deine Bemerkung, dass die Welt der Mathematik voll von Vektorräumen sei, erscheint mir glaubhafter, nachdem du bei diesem seltsamen Vektorraum der positiven ganzen Zahlen einfach durch Ändern der Etiketten bei den Verknüpfungen die Vektorraumstruktur erzwungen hast; ich bin allerdings immer noch nicht ganz sicher, dass du das so einfach durftest.

Immerhin, jetzt bin ich bereit für alle Vektorräume dieser Welt. Zeig mir nun, dass die Mathematik voller Vektorräume ist, ja dass wir ohne Kenntnis des Vektorbegriffs praktisch wie ein Blinder durch die Welt taumeln, wie du angedeutet hast. Kurz: Lass, o mein Sokrates, mich in die Tiefe der Vektorräume schauen.

A: Gern, wenn du willst. Aber erst nach der Sommerpause!

Ende des Zwölften Gesprächs über Vektoren.

- und es war Sommer (Peter Maffay, 1976)