Im Visier: Der Vektor - Vierzehntes Gespräch über Vektoren

A: Auf gehts. Nun zeig mal, dass die Menge der reellwertigen Funktionen mit gemeinsamer fester Argumentmenge A bezüglich der Addition und der Multiplikation mit reellen Zahlen einen Vektorraum bilden.

D: Wir haben die zu untersuchende Menge mit F bezeichnet und ich habe nun nachzuzweisen, dass alle konstituierenden Vektorraumeigenschaften erfüllt sind ...

A: ... als da wären?

D: F bildet bezüglich der Addition eine kommutative Gruppe, Multiplikation mit 1 verändert ein Element von F nicht und es gilt das "Assoziativegesetz" zusammen mit den beiden "Distributivgesetzen".

A: Wenn du noch vorausschickst, dass F bezüglich der Multiplikation mit reellen Zahlen abgeschlossen ist, dann ist das tatsächlich komplett, allerdings sehr kompakt formuliert. Fangen wir damit an, dass (F, +) eine kommutative Gruppe ist. Was heißt das?

D: Das bedeutet:

Dabei gelten (1) und (2) für alle f, g aus F. Es gibt ein neutrales Element o , das für alle f aus F die Gleichung

A: Und vor einiger Zeit haben wir schon gesehen, dass es nicht mehrere neutrale Elemente geben kann, wir sprechen also mit Recht von dem neutralen Element.

D: Weiter war zu zeigen: Für jedes f aus F gibt es ein g aus F, so dass gilt:

A: Ganz genau. Und mit Hilfe der Vektorraumaxiome (1), (2), (3.1), (3.2) haben wir gezeigt, dass dieses Element g zu vorgegebenem f eindeutig bestimmt ist. Wir haben g daher als das Gegenelement von f bezeichnet, bzw. wenn ein Vektorraum zu Grunde liegt, als den Gegenvektor von f. Und statt "Gegenvektor von f" haben wir kürzer geschrieben -f.

A: Und die restlichen Vektorraumaxiome?

D: Für jede reelle Zahl r und für jedes f aus F liegt r.f in F, ...

A: ...richtig, das ist die Abgeschlossenheit von F gegenüber der Multiplikation mit reellen Zahlen ...

D: ... und für alle r, s aus R und f, g aus F gelten die Gleichungen

A: Damit hast du zusammengestellt, welche Eigenschaften für den von uns betrachteten Funktionenraum nachzuweisen sind. Also leg los.

D (nach längerem Überlegen): Meine Schwierigkeit besteht jetzt darin, dass diese Eigenschaften doch ganz offensichtlich erfüllt sind. Ich weiß nicht, was als Begründung für Offensichtliches anzugeben ist.

A: Wir haben uns bereits überlegt, dass wir durch die Addition zweier Elemente von F und durch die Multiplikation eines Elements von F mit einer reellen Zahl wieder eine Funktion mit Argumentmenge A, also ein Element von F erhalten. Abgesehen von den beiden erforderlichen Existenznachweisen (3.1) und (3.2) brauchen wir also nur zu zeigen, dass in (1) bis (7) die Funktionen rechts und links vom Gleichheitszeichen an jeder Stelle x aus A den gleichen Wert haben. Daher ist z.B. zum Nachweis von (1) zu zeigen, dass ((f+g)+h)(x) = (f+(g+h))(x) für alle x aus A gilt.

D: Ja und wie zeige ich das?

A: ((f+g)+h)(x) = (f+g)(x) + h(x) (nach Definition der Summe in F)

D: Hat sich da nicht Münchhausen am eigenen Zopf aus dem Sumpf gezogen? Du beweist das Assoziativgesetz mit Hilfe des Assoziativgesetzes. Unser Lehrer schwenkt bei solchen Gelegenheiten immer das Zeichengerät und wir müssen im Chor sagen "Der Zirkel hat sich geschlossen". Und zum x-ten Mal hat er uns bei solchen Gelegenheiten die Geschichte von dem Rabbi erzählt, der nach seiner eigenen Aussage jede Nacht mit Gott spricht. Und von dem Argument der gläubigen dies verbreitende Jünger gegenüber den Zweiflern, dass Gott ja schließlich nicht mit einem Lügner sprechen würde.

A: Aber das hier ist gar kein Zirkelschluss. Für die reellen Zahlen gehört das Assoziativgesetz ja zu den Axiomen, also den von uns als richtig vorausgesetzten Grundlagen. Und daher dürfen wir das durchaus benutzen, um andere Regeln zu beweisen, auch wenn diese ebenfalls den Namen Assoziativgesetz tragen.

D: Moment, lass mich nachdenken. Dann müsste sich (2) ergeben wegen

A: Genau so. Jetzt brauchen wir ein neutrales Element o. Welche Funktion ist das?

D: Die Funktion, die an jeder Stelle von A den Wert null hat, denn dann ist für jedes f aus F:

(f + o)(x) = f(x) + o(x) = f(x) + 0 = f(x).

Dabei habe ich neben der Definition der Summe in F und der Definition von o verwendet, dass 0 neutrales Element der Addition in R ist.

A: Und wie erklären wir für (3.2) die Funktion -f?

D: Für alle x aus A setzen wir (-f)(x) := -(f(x)). Und machen Gebrauch davon, dass es zu jeder reellen Zahl eine Gegenzahl gibt. Für jedes x aus A ist daher (f+(-f))(x) = f(x) + (-f(x)) = f(x) + -(f(x)) = 0 = o(x), also ist f+(-f)=o, was zu zeigen war.

A: Das war jetzt so perfekt, dass wir uns die restlichen Nachweise ersparen und für heute Schluss machen wollen. Denn wer dies verstanden hat, kann das Fehlende zu (4) bis (7) leicht ergänzen.

Ende des vierzehnten Gesprächs über Vektoren.