Im Visier: Der Vektor - Zwanzigstes Gespräch über Vektoren

D: Meine Aufgabe bestand darin, einige Mengen von Folgen, die jeweils Vektorunterräume des Raumes RN bilden, hinsichtlich ihrer Schachtelung zu betrachten. Ich habe dazu die Abkürzungen N (Nullfolgen), L (Folgen mit Limes, also konvergente Folgen), K (konstante Folgen), B (beschränke Folgen) gewählt. Dann ist L ein Vektorunterraum von B; N und K sind Vektorunterräume von L.

A: Und wie sind N und K geschachtelt?.

D: Gar nicht. Außer der konstanten Nullfolge (0,0,0,...) (= o) haben sie keine gemeinsamen Elemente. Allerdings kann man mit beiden zusammen, wie wir in der Analysis gelernt haben, jedes Element von L erzeugen.

A: Wie ist das gemeint?

D: Jede konvergente Folge lässt sich auf genau eine Weise als Summe einer konstanten und einer Nullfolge darstellen.

A: Weißt du noch, wie man das zeigt?

D: Wenn (an) eine konvergente Folge mit Grenzwert a ist, dann hat man wegen (an) = (a) + (an - a) eine solche Darstellung.

A: Und warum gibt es keine andere Darstellung von (an) als Summe einer konstanten Folge und einer Nullfolge?

D: Dazu muss ich zeigen, dass für konstante Folgen k1 und k2 und Nullfolgen n1 und n2 aus k1 + n1 = k2 + n2 folgt, dass die beiden konstanten Folgen übereinstimmen und auch die beiden Nullfolgen gleich sind.

A: Wie sieht man das?

D: Aus k1 + n1 = k2 + n2 folgt k1 - k2 = n2 - n1 ; da aufgrund der Abgeschlossenheit von K und N die Folge k1 - k2 konstant und die Folge n2 - n1 eine Nullfolge ist, muss auf beiden Seiten der letzten Gleichung eine konstante Nullfolge, also o, stehen. Daraus folgt aber sofort k1 = k2 und n1 = n2 .

A: Na prima. Wir haben also, da nur Vektorraumeigenschaften benutzt wurden, gesehen: Wenn zwei Unterräume U1 und U2 (hier K und N) eines Vektorraums V (hier L) lediglich den Nullvektor gemeinsam haben, sich aber jedes Element von V als Summe eines Elements von U1 und eines Elements von U2 darstellen lässt, dann ist diese Darstellung eindeutig.
Die Menge aller Summen f+g mit Vektoren f aus U1 und g aus U2 wird übrigens mit U1 + U2 abgekürzt.

D: Wenn wir aber jetzt umgekehrt von zwei Untervektorräumen U1 und U2 eines Vektorraums V ausgehen, braucht doch die Menge U1 + U2 nicht unbedingt ganz V zu ergeben; soll ich ein Beispiel geben?

A: Das lohnt sich nicht. Wichtiger ist, dass U1 + U2 auf jeden Fall wieder ein Vektorraum, also ein Untervektorraum von V ist.

D: Das zeigt man vermutlich mit Hilfe des Untervektorraumkriteriums.

A: Ja, und auf den einfachen Beweis verzichten wir. Und ebenso unkompliziert ist zu zeigen, dass die Schnittmenge von zwei Untervektorräumen von V wieder ein Untervektorraum von V ist.

D: Und was ist mit der Vereinigungsmenge von zwei Untervektorräumen?

A: Das Vereinigen zweier Unterräume von V führt nur dann zu einem Vektorraum, wenn einer der beiden Unterräume eine Teilmenge des anderen ist.

D: Das ist ja klar: Wenn alle Elemente des Unterraums U1 im Unterraum U2 liegen, ergibt die Vereinigungsmenge U2, also einen Untervektorraum. Aber könnte in gewissen Fällen nicht auch die Vereinigungsmenge ein Vektorraum sein, obwohl keiner der beiden Unterräume Teilmenge des anderen ist?

A: Das kannst du selber kontrollieren. Was bedeutet es, wenn keiner der Unterräume U1 und U2 Teilmenge des anderen ist?

D: Dann sind die Mengen U1\U2 und U2\U1 beide nicht leer.

A: Somit existiert ein Vektor f aus U1, der nicht in U2 liegt, und ein Vektor g aus U2, der nicht in U1 liegt. Dann betrachte doch mal f+g. Kann dieser Vektor in U1 liegen?

D: Wie soll man das ohne weitere Angaben entscheiden?

A: Mit Hilfe der Vektorraumeigenschaften. Es ist g = f+g - f.Und da f in U1 liegt, folgt aus der Abgeschlossenheit von U1, dass zusammen mit f+g auch g in U1 liegt, was der Voraussetzung widerspricht; also liegt f+g nicht in U1, nach der analogen Überlegung auch nicht in U2, und damit nicht in der Vereinigungsmenge von U1 und U2. Mithin ist diese Menge gegenüber der Addition nicht abgeschlossen, also kein Vektorraum.

D: Darf ich zusammenfassen? Die Vereinigung von U1 und U2 ist im allgemeinen kein Vektorraum, wohl aber U1+U2. Könnte es denn sein, dass es einen Vektorunterraum von U1+U2 gibt, der sowohl U1 als auch U2 umfasst, aber eine echte Teilmenge von U1+U2 ist?

A: Beantworte die Frage selber.

D: Jedes Element von U1+U2 lässt sich in der Form f+g mit f aus U1 und g aus U2 darstellen. Ein Vektorraum, der die Vereinigungsmenge von U1 und U2 umfasst, muss aber f und g, und somit auch f+g als Element enthalten. Also ist U1+U2 der "kleinste" Vektorraum, der sowohl alle Elemente von U1 als auch von U2 enthält.

A: Aber nicht nur in diesem speziellen Fall der Vereinigung von zwei Vektorunterräumen von V hat man eine Teilmenge, die sich auf knappste Weise zu einem Vektorunterraum von V auffüllen lässt; man kann vielmehr jede Teilmenge T von V zu einem Vektorunterraum von V ergänzen, dessen Elemente sich alle mit Hilfe von Vektoren aus T erzeugen lassen.

D: Indem man alle Vielfachen und alle Summen von zwei Vektoren aus T hinzunimmt?

A: Das reicht leider nicht, denn die Summe zweier solcher Summen (f1+f2)+(f3+f4) mit f1, f2. f3, f4 aus T lässt sich nicht immer als Summe von zwei Elementen aus T darstellen.

D: Wenn das so ist, wird natürlich die Bedingung der Abgeschlossenheit verletzt. Allerdings fällt mir jetzt kein geeignetes Gegenbeispiel ein; kannst du mir eins nennen?

A: Bis zu unserem nächsten Gespräch wirst du sicher eine geeignete Teilmenge T für ein Gegenbeispiel gefunden haben.

Ende des zwanzigsten Gesprächs über Vektoren.