Den Vektor im Griff - Vierundzwanzigstes Gespräch über Vektoren

A: Nanu, du schon wieder? Ich dachte, unsere letzten Gespräche über Vektoren hätten dir reichlich Stoff zum längeren Nachdenken und zum Nacharbeiten gegeben. Oder willst du jetzt zur Abwechslung einmal eine ganz andere Seite der Mathematik kennenlernen; ich könnte mir da zum Beispiel eine genauere Betrachtung der reellen Zahlen vorstellen.

D: Das ist ganz sicher auch sehr interessant, aber im Augenblick geht es mir immer noch um die Vektoren.

A: Das ist nicht gut. Gehäuftes Lernen ist wesentlich weniger effektiv als verteiltes Lernen. Und wir haben uns in unseren letzten zwölf Gesprächen ja schließlich nicht über so wenig unterhalten, dass jetzt eine Gesprächspause entbehrlich ist.

D: Das mag ja aus pädagogischen oder lernpsychologischen Erwägungen so aussehen, aber hier handelt es sich gewissermaßen um einen Notfall.

A: Das kann ich mir allerdings nur schwer vorstellen. Meistens sind Notfälle eher ein wirklicher oder vorgeschobener Anlass, sich entgegen bestehenden Verpflichtungen nicht mit Mathematik zu beschäftigen, es sei denn, es stehen gerade Lebensweg-entscheidende Prüfungen bevor. Du machst mich ja richtig neugierig.

D: Das ist alles gar nicht lustig.Nach unserem letzten Gespräch habe ich ja noch zwei Ferienwochen an der See verbracht. Und irgendetwas muss mir das Gehirn versengt haben - sicher nicht die Sonne, denn die hat nur leider wenige Gastvorstellungen gegeben. Jedenfalls habe ich meinem Lehrer eine Urlaubskarte geschrieben.

A: Das ist aber doch sehr nett, - oder werden solche Akte in deinem Kurs mit der Verleihung der goldenen Schnecke bestraft?

D: Nein, die Karte an sich war nicht das Problem, wohl aber der Inhalt.

A: Hast du seinen Unterricht kritisiert oder an seiner mathematischen Notation herumgemäkelt? Nach dem, was du mir erzählt hast, kann man da zwar einiges diskutieren, aber nichts wirklich ernsthaft kritisieren.

D: Ich habe ihm geschrieben, dass ich mich intensiv mit dem Begriff des Vektors beschäftigt habe und gespannt auf die Weise bin, in der ich im Unterricht demnächst ein zweites Mal die entsprechenden Begriffe und Zusammenhänge kennenlerne. Und weiter, dass meine Kenntnisse bisher mehr abstrakt sind, so dass mich besonders auch die konkreten Anwendungen interessieren.

A: Das hat er - zumindest was den ersten Teil angeht - vielleicht etwas anmaßend gefunden, aber so richtig schlimm war das doch nicht. Ein interessierter Schüler, der sich auf den Stoff freut, ist doch ein besonders willkommener Teilnehmer in jedem Kurs. Wieso sprichst du von einem Notfall.

D: Es begann schon mit der ersten Stunde - und es war grauenhaft. Das heißt zuallererst hat er uns natürlich allgemein etwas über seine Anforderungen und Bewertungsgrundsätze erzählt, die Bedeutung von Hausaufgaben und Heftführung hervorgehoben und eine Predigt über die Wichtigkeit von häufigem Fragen und vollständigem Verstehen gehalten, - aber das kannten wir eigentlich alles schon vom Beginn des letzten Schuljahres her. Das Schlimme kam dann so ziemlich am Ende der ersten Stunde.

A: Hat er angekündigt, die Leistungen ab sofort objektiv an den Anforderungen zu messen und ohne zugedrücktes Auge zu bewerten? Dann kann ich zwar ein allgemeines Erschrecken verstehen, aber das ist doch keine dich persönlich betreffende Tragik.

D: Nein viel schlimmer. Er fing an, einen kurzen Überblick über den vorgesehenen Stoff zu geben, unterbrach sich aber dann sofort und erklärte, dass ein Kursteilnehmer - damit meinte er natürlich mich - tiefer in die Thematik des bevorstehenden Halbjahrs eingedrungen sei, und wir beide nun, wo ja Teamarbeit die überall angesagte Methode sei, gewissermaßen in gegenseitiger Ergänzung den neuen Stoff präsentieren könnten. Ich solle doch schon einmal an die Tafel treten und einige grundlegende Begriffe und Methoden nennen und notieren, dann werde er meine Ausführungen abrunden und in Detail korrigieren, wenn das wider Erwarten notwendig sei, - und bei dem "wider Erwarten" kam es mir vor, als ob er ganz kurz, aber intensiv, ironisch grinste.

A: Das war nicht sehr durchdacht, denn woher solltest du wissen, welche Teile des von dir erschlossenen Stoffs er im Unterricht behandeln will?

D: Ich wusste ja auch nicht, wo ich anfangen sollte. Ich ging nach vorn und bat ihn, mir zur Orientierung ein paar Stichworte zu nennen, die ich dann ausführen würde. Er sah mich mit gespieltem Erstaunen an und bemerkte dann etwas resigniert, dass die grundlegenden Begriffe doch in jedem Schulbuch ständen. Es müsse ja nicht gleich bis zu linearen Abbildungen und Matrizen gehen, aber vielleicht könne ich etwas zu den verschiedenen Operationen sagen, wobei Skalarprodukt, Kreuzprodukt und Spatprodukt besondere Erwähnung verdienten. Als ich ihn nur ratlos ansah, wunderte er sich und meinte, er sei es ja gewohnt, dass hier Wissenslücken und Verwechslungen an der Tagesordnung seien, aber dass jemand, der sich aktiv und interessiert mit Vektoren beschäftigt habe, hierzu nun gar nichts sagen könne, käme ihm nun doch sehr irritierend vor. Dann solle ich halt etwas zu Entfernungen und Winkeln bei Vektoren sagen. Und als ich auch hier passen musste, sagte er mit demonstrativer Resignation, dass wir es dann eben leider bleibenlassen und zum herkömmlichen Unterricht zurückkehren müssen. Aber - um wenigstens einen Funken von Wissen zu demonstrieren - solle ich einen Vektor zeichnen und etwas die Berechnung seiner Länge erläutern. Zu dem Zeitpunkt hätte ich wohl selbst dann kaum noch etwas antworten können, wenn ich es gewusst hätte. Meine Mitschüler grinsten zum Teil, andere - denen sonst so oft mein Mitleid gegolten hatte - sahen mich bedauernd und verständnislos an. Ich murmelte nur, dass ich mir das alles noch einmal überlegen wolle, und schlich mich wie ein geprügelter Hund auf meinen Platz. Zum Schluss fragte mein Lehrer noch in freundlichem Ton, ob ich vielleicht einer Verwechslung mit Ferien auf dem Bauernhof erlegen sei und in Wirklichkeit Erfahrungen mit Traktoren statt mit Vektoren gesammelt habe.

A: Ganz schön demütigend; dann muss ich ja froh sein, dass du noch so nett und höflich zu mir bist, denn du hattest doch sicher das Gefühl, dass ich dich ins offene Messer habe laufen lassen.

D: Im ersten Moment war ich schon enttäuscht und auch gegen dich ein wenig aggressiv. Als ich ein bisschen in meinem neuen Lehrbuch geblättert habe, ist mir aber zweierlei deutlich geworden: Einerseits hatte mein Lehrer recht, dann die von ihm genannten Begriffe scheinen in dem Buch wirklich wesentliche Bedeutung zu haben, andererseits handelt aber offenbar das ganze Buch nur von dem Vektorraum R3, über den wir ja so gut wie gar nicht gesprochen haben. Da du allerdings weißt, dass dieser Raum in der Schule eine besondere Bedeutung hat, war es nicht sehr nett, mich gerade hierbei völlig unwissend zu lassen.

A: Da wolltest wissen, was ein Vektor ist. Das habe ich dir erklärt. Alles andere, vor allem das, was du in der nächsten Zeit in der Schule lernen wirst, betrifft nicht mehr allgemein Vektoren, sondern einen speziellen - im Hinblick auf seine Anwendung vor allem in der Geometrie gewählten - Raum. Wir können gerne die noch fehlenden spezielleren Eigenschaften und Definitionen nachtragen, und ich verspreche dir: Es wird keineswegs schwerer! Allerdings werden wir auch dieses Mal zumindest gelegentlich die Begriffe ein wenig allgemeiner fassen, als du sie in deinem Mathematikunterricht verwendest.

D: Dann fangen wir doch bitte mit der letzten Frage meines Lehrers nach der Länge eines Vektors an!

A: Schade, dass ich schon jetzt mit einer Korrektur beginnen muss: Ein Vektor ist ein algebraisches und kein geometrisches Objekt: Er hat eigentlich keine Länge.

D: Argumentierst du jetzt gegen den Rest der Welt? Nach der Pleite im Unterricht habe ich im Internet bei der Suche "Länge eines Vektors" unzählige Treffer gehabt. Es hat was mit der Länge von Pfeilen zu tun, manchmal standen auch Formeln mit der Wurzel aus einer Quadratsumme da. Also sag bitte nicht, dass ein Vektor keine Länge habe.

A: Hat der Herz-König auf der Spielkarte einen Hut auf und ein Szepter in der Hand? Hat es einen Sinn zu fragen, welche Farbe die Bluse der Karo-Dame hat? Wie viele Kreuze sind auf einer Kreuz-Neun? Welche Höhe und welches Gewicht hat ein weißer Springer beim Schachspiel?

D: Den Zusammenhang mit meiner Frage verstehe ich nicht. Ich vermute mal, der Herz-König hat Hut und Szepter auf allen Spielkarten, aber da ein Amerikanisches Blatt, ein Deutsches Blatt, ein Französisches Blatt in Deutschland alle verschieden aussehen, müsste das nicht so sein. Auf einer Kreuz-Neun können nach meiner Erinnerung 9, 11 oder 13 Kreuze, allerdings verschieden große, sein. Und natürlich hängt die Springergröße vom Modell der Spielsteine ab.

A: Und meinst du nicht, dass es beim Vektorraum genau so verschiedene Modelle geben kann?

D: Aber ich dachte, die Veranschaulichung des Raumes R3 sei einheitlich.

A: Bei diesem Raum handelt es sich zunächst um die Menge der dreigliedrigen Folgen reeller Zahlen mit der üblichen Addition und der üblichen Multiplikation mit reellen Zahlen, wie wir das ja vor längerer Zeit allgemeiner betrachtet haben. Wenn du jetzt diesen Raum veranschaulichen willst, ist zunächst einmal jede Menge geeignet, bei der jedem Vektor genau ein Element von von M und umgekehrt (durch die Umkehrung dieser Zuordnung) jedem Element von M genau ein Vektor aus R3 zugeordnet ist. Denkst du zum Beispiel an die übliche Darstellung von Funktionen im Koordinatensystem, gehört zu jedem Vektor aus R3 ein aus drei Punkten im Koordinatensystem bestehender Graph.

D: Und in diesem Modell könnte man dann genauso einfach Elemente aus R4, R5, oder R333 darstellen.

A: Das lässt diese Darstellung zunächst attraktiv erscheinen. Aber für die Auffassung eines Vektors als eines Objektes ist eine weniger zerfaserte Darstellung möglicherweise günstiger. So bevorzugt man möglicherweise die Darstellung eines Vektors als Punkt, dessen Koordinaten die Komponenten des Vektors sind. Allerdings erreicht diese Darstellung bereits bei den dreigliedrigen Folgen die Grenzen der unmittelbaren Anschaulichkeit. Und wenn man dieses Modell wählt und darin bleibt, kann man die Punkte mit den entsprechenden Vektoren identifizieren. In beiden Modellen hat aber der Begriff der Länge keinen offensichtlichen Sinn.

D: Diese Modelle mögen interessant sein, aber bei dem Modell meines Unterrichts sind die Vektoren Pfeile, - und die haben doch sehr wohl eine Länge. Das ist dann doch sehr ähnlich dem zweiten Modell, nur dass man nicht den Punkt, sondern den Pfeil vom Ursprung zu diesem Punkt betrachtet. Dann ergibt es auch einen Sinn, von der Länge des Vektors zu sprechen.

A: Das nähert sich einer dritten - und geometrisch besonders fruchtbaren - Möglichkeit zur Veranschaulichung des Raumes R3. Allerdings wird sich eine wesentliche Änderung deines Modells als zweckmäßig erweisen: Man betrachtet anstelle des von dir beschriebenen Pfeils die Menge aller Pfeile - also gerichteten Strecken - des Raumes, die zu dem von dir beschriebenen Pfeil gleichlang und gleich gerichtet sind. Diese werden zu einer Teilmenge, einer sogenannten Klasse, zusammengefasst, und dann jede solche Klassen wird dann mit dem entsprechenden Vektor identifiziert. Von unseren drei Darstellungsmöglichkeiten ist das also die komplizierteste, so dass man für einen lückenfreien Ansatz etwas weiter ausholen muss. Dass wollen wir dann beim nächstenmal, also - da du auf Eile drängst - in Kürze tun.

Ende des vierundzwanzigsten Gesprächs über Vektoren.