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Intgerpreten

 

Länger als sechzig Jahre, genauer seit Horst Staigers 1955 gehaltenem Vortrag über die Kunst der Interpretation wissen wir, dass weit hinausgehend über das lediglich sinnerfassende Lesen ein wesentlicher Aspekt bei der Deutung der Kunst im "Begreifen, was uns ergreift" liegt. Zu Unrecht ist das Interpretieren von Gedichten für viele Schüler immer noch negativ belegt oder gar mit Schrecken verbunden.
Als Muster und zur Anregung wird nachstehend zu dem rezitierten Gedicht ein Interpretationsbeispiel aus dem Jahre 1963 gegeben, das trotz seines Alters durch seine Verbindung von sensibler Texterfassung und kompromissloser Wissenschaftsorientiertheit erstaunt und in seiner Zeitlosigkeit möglicherweise geeignet ist, auch dem zunächst vielleicht Verzagten bei seinen Interpretationsbemühungen Mut zu machen.

  1. Des Morgens, wenn im Hof das Huhn geruht,
  2. die Legung eines Eies zu vollziehen,
  3. ergreife ich vom Haken meinen Hut
  4. und gehe fort, mich ebenfalls zu mühen.

Versuch einer Deutung

In seinem kreuzgereimten Vierzeiler schildert der Verfasser des Gedichts (es handelt sich um den Betreiber dieser Homepage in jungen Jahren) zwei synchron verlaufende Vorgänge: Das Huhn unten im Hühnerhof wird aktiv, und zugleich muss auch er an seine Arbeitsstelle. Man kann daher das Gedicht in zwei formal gleichwertige Partialsysteme zerlegen, die nun im einzelnen betrachtet werden sollen.

In den beiden Anfangszeilen fällt die Wortwahl auf, die auf den ersten Blick dem Inhalt in irritierendem Maße inadäquat zu sein scheint. Die - vor allem durch die Periodizität des Vorgangs - eher als banal angesehene Tätigkeit des Huhns wird in einer nahezu überhöhten Sprache geschildert, die Verben geruhen und vollziehen, die selbst im Bereich menschlicher Aktivität eine Sonderstellung am Rande der Umgangssprache einnehmen, werden durch den unkonventionellen Begriff der Legung unterstrichen und verstärkt. Doch trotz der sprachlichen Höhe verbleibt die Handlung zunächst überraschend im profanen Raum, wenn man nicht den zweiten Teil der Strophe berücksichtigt.

Inhaltlich scheinbar vom zunächst Geschilderten unabhängig und lediglich durch die Simultaneität des Geschehens verbunden, steht dieser Teil doch formal in enger Beziehung zum Anfang des Gedichts. Die stabreimartige Reihung Hof - Huhn wird mit Haken - Hut konsequent fortgesetzt, ja Zeile 1 und 3 werden hierdurch zusätzlich und über die bloße Reimbindung hinausgehend gekoppelt. Liest man jetzt diese beiden Zeilen hintereinander, so wird in der ersten Zeile ein zusätzlicher Bezug sichtbar, sie evoziert durch das Ruhen ein Kontrastbild zur Geschäftigkeit, welche sich im Endwort Mühen verdichtet. Die Betrachtung der ersten Zeile geschieht nachfolgend unter der Folie dieser Zweispurigkeit. Die Doppelbödigkeit bewirkt eine nahezu dialektische Spannung innerhalb der Zeilen. Gleichzeitig wird die Form fixiert und konturiert, indem das dominierende "g" in geruht in den folgenden Verben mit ergreife und gehe wieder aufgenommen wird. Nur Zeile 2 nimmt hier eine Sonderstellung ein und muss einer Betrachtung für sich unterzogen werden.

Dem Verständnis eröffnet sie sich vor dem Horizont der Symbolik von Entstehen und Vergehen. Der Morgen und das Ei sind in den verschiedensten Mythologien wesenhaft mit dem Anfang und Ursprung der Welt, ja des Lebens überhaupt verbunden. Im Wort "Vollziehen", in dem die diesem Gedicht eigene fast kafkasche "Fülle der Kargheit" sichtbar wird, vertieft sich dieses Bild. In nahezu metaphysischer Schau sieht der Autor also seinen Abschied: Auf der einen Seite beginnt das Leben, auf der anderen endet es. Niemand weiß, wohin ihn der Tod führt, nur dass er fort führt und dass selbst er mit Schmerz verbunden ist wie das Leben - "und gehe fort, mich ebenfalls zu mühen."

Der Ausdruck der Verse ist keineswegs auflehnend, und so unterbleibt jeder Anflug von Vorwurf oder Bitterkeit, wenn der Autor seine Todesstunde noch als Morgen empfindet. Der Dichter erkennt die Transzendenz, er fühlt, dass er in einer - wenn ihm auch nicht fassbaren Weise - dem Absoluten verhaftet ist und auch bei seinem Abgang bleibt. Er ist Akteur, will bis zum letzten Augenblick die Zügel in der Hand halten (handlungsintensives "ergreife"). Er bejaht in gewissem Sinn sein Schicksal und ist zum Gehorsam bereit. So wird hinter dem Gedicht auch die Anerkennung eines höheren Gesetzes deutlich, das über alle und alles verfügen kann und darf.

Ergänzende Bemerkungen:

Es soll nicht verschwiegen werden, dass es von Seiten fachkundiger Leser eine Reihe kritischer Bemerkungen zu dieser Deutung gegeben hat, wobei der Haupttenor der Beanstandung in die Richtung mangelnder Detailberücksichtigung zielt, da insbesondere dem Wallungswert der Worte (im Sinne Gottfried Benns) nur unzureichend nachgegangen sei. So vermissen einige Leser die Würdigung des kontrastierenden Stils, der beginnend im formal geometrischen Rund-Eckig (Ei und Hut als Rundes versus Haken als Eckiges, Besänftigung gegen Aggressivität) die Welt fremder Gesetzmäßigkeiten, den "Hof", dem subjektiven kleinen Umfeld des Ich gegenüberstellt, das in der Geborgenheit seiner vier Wände nach "seinem" Hut greift. Andere wünschen eine stärkere Hervorhebung des Schutzgedankens, der mit dem "behütenden" Hut anklingt und assoziativ mit dem Wort "fort" die Geborgenheit bietende, Angriffe abwehrende und schützende Hülle eines Forts anklingen lässt. Schließlich wurde bedauert, dass der deutlich werdende Anspruch der Vieldimensionalität - die horizontal ausgedehnte Ebene wird mit der - Vertikalität verdeutlichenden - Vokabel Fall im Wort "ebenfalls" verschränkt - nur unzureichend in der Deutung wiedergegeben wird. Das Gewicht dieses Wortes sei allein schon deshalb in besonderer Weise zu berücksichtigen, weil hier neben dem lediglich Simultaneität stiftenden und damit bloß die chronologische Ebene betreffenden "wenn" die zweite Parallelität, nämlich die in der Anstrengungsbewertung liegende, sichtbar gemacht wird.

Dieser Kritik kann nur bedingt zugestimmt werden. Wenn es sich bei dem besprochenen Gedicht auch zweifellos um ein Werk bemerkenswerter und möglicherweise in diesem Deutungsversuch nur partiell ausgeloteter Tiefe und Vielschichtigkeit handelt, scheint es doch so zu sein, dass in der obigen Deutung in beglückender Weise und mit besonderem Augenmaß der schmale Pfad zwischen den Extremen singulärer Sensibilitätsdefizite auf der einen und Überinterpretation auf der anderen Seite gefunden wurde.

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