Dem Vektor auf der Spur - Siebentes Gespräch über Vektoren

D: Heute werden wir also den Vektorraum entzaubern und seine grundlegenden Eigenschaften bloßlegen:

A: Wenn du mit den grundlegenden Eigenschaften die Definition meinst, dann hast du Recht. Zumindest mit der ersten grundlegenden Eigenschaft werden wir uns beschäftigen: Der Vektorraum enthält stets mindestens ein Element und es ist - wie auch immer - eine als Addition bezeichnete Verknüpung erklärt, mit der man zu je zwei (nicht unbedingt verschiedenen) Elementen ein neues Element erhält.

D: ... wie zum Beispiel im Goetheraum bei den Zauberquadraten oder im Pharaoraum mit Nofretetes Kopf.

A: Wie immer merkt sich der Schüler das unwichtigste Beispiel am besten. Nun wird von dieser "Addition" zwar nicht verlangt, dass sie etwas mit unserer üblichen Art der Summenbildung zu tun hat ..

D: .. also könnte ich in der Menge der natürlichen Zahlen als Kandidaten meines Naturraums zur Vektor-Addition die Bildung des größten gemeinsamen Teilers oder des kleinsten gemeinsamen Vielfachen ernennen?

A: Zunächst grundsätzlich ja; allerdings muss die von dir eingeführte "Addition" fünf Tests bestehen, ehe sie den vorläufigen Namen Vektoraddition erhält; vorläufig deshalb, weil ja auch die Multiplikation noch zu kontrollieren ist.

D: Also leg los: Test 1?

A: Das Ergebnis der Verknüpfung muss wieder in der Menge liegen, welche die Anerkennung als Vektorraum beantragt hat.

D: Ist das nicht selbstverständlich? Unsere Verwurstung von zwei Zauberquadraten ergibt wieder ein Zauberquadrat und im Pharaoraum führte die Addition auch immer wieder zu Nofretetes Kopf.

A: Hast du diese Eigenschaft für den Goetheraum denn wirklich nachgerechnet?

D: Bei unseren Beispielen haben sich jedenfalls immer wieder Zauberquadrate ergeben; muss man denn noch mehr beweisen?

A: Du musst allgemein zeigen, dass für beliebige Elemente, nicht nur für deine Beispiele, die Addition von zwei Zauberquadraten wieder zu einem Zauberquadrat führt, aber diesen Nachweis heben wir uns für später auf. Man nennt diese Eigenschaft auch Abgeschlossenheit bezüglich der entsprechenden Verknüpfung, also der Pharaoraum ist ebenso abgeschlossen bezüglich der von uns definierten Addition wie der Goetheraum. Dass die Abgeschlossenheit keine selbstverständliche Eigenschaft ist, kannst du schon an einfachen Gegen-Beispielen sehen:
- die natürlichen Zahlen bezüglich der Substraktion (4 - 7 ist keine natürliche Zahl),

- die dreistelligen ganzen Zahlen bezüglich der Addition (666 + 789 ist nicht dreistellig)

- die Primzahlen bezüglich der Multiplikation ( 2 * 3 ist keine Primzahl).

D: Test 1 ist verstanden: Die Menge muss bezüglich der Addition abgeschlossen sein. Was ist Test 2?

A: Man darf die Summanden vertauschen; das Ergibnis der Addition ist also unabhängig von der Reihenfolge der Summanden.

D: Das ist das mir schmerzlich bekannte Kommutativgesetz. Mein Lehrer hat bei der Erläuterung dieses Wortes jedesmal etwas von Mutationen, Mutanten und dem Zauberspruch Mutabor aus dem Märchen Kalif Storch erzählt; zweimal haben wir ihn bei der Gelegenheit schon dazu gebracht, uns Märchen aus Tausend-und-eine-Nacht zu erzählen. Das war zwar immer noch nicht so prickelnd wie Geschichten aus der Twilight-Zone, - und die Geschichte von Aladin, die ich brandneu aus dem Kino kannte, hat er zudem noch ziemlich verballhornt, aber besser als Gleichungen lösen wars allemal.

A: Gut, dann kennst du sicher auch Test 3, das Assoziativgesetz.

D: Naturlich: "Bei einer reinen Addition darf man die Summanden beliebig zu Teilsummen zusammenfassen; a+(b+c) = (a+b)+c". Also gut, ich ziehe meinen Kandidaten mit der ggT-Bildung als "Addition" freiwillig zurück.

A: Sei doch nicht voreilig. Bisher liegt er gar nicht schlecht im Rennen. Denn der ggT von a und b ist der gleiche wie der ggT von b und a, also ist schon mal das Kommutativgesetz erfüllt. Und wenn wir uns für das Assoziativgesetz mal ein Beispiel ansehen, etwas mit den Zahlen 42, 105 und 45 und jetzt für zwei Minuten einmal die Bedeutung des Pluszeichens vergessen und es Aufforderung zur ggT-Bildung deuten, dann haben wir
einerseits 42
+ (105 + 45) = 42 + 15 = 3 und andererseits (42 + 105) + 45 = 21 + 45 = 3, also in beiden Fällen das gleiche Ergebnis.
Und das hier nur an einem Beispiel kontrollierte Assoziativgesetz tatsächlich für den ggT in der Menge der positiven ganzen Zahlen allgemeingültig.

D: Ich finde es ziemlich anstrengend, mir auf einmal unter dem Pluszeichen etwas anderes vorstellen zu müssen als die gewohnte Addition. Aber vielleicht ist es einfacher, wenn es aufgeschrieben wird, dann könnte man z.B. das Verknüpfungszeichen rot färben und so eine Verwechslung mit dem bürgerlichen Plus vermeiden. Schnell zum nächsten Test.

A: Die Existenz eines neutralen Elements. In jedem Vektorraum gibt es ein Element, das bei der Addition neutral ist.

D: So wie die Null bei Addition und Subtraktion?

A: So wie die Null bei der Addition. Bei der Subtraktion verhält sich die Null keineswegs neutral.

D: Aber für jede Zahl z ist doch z - 0 = z; bedeutet das nicht, dass null neutral bezüglich der Subtraktion ist?

A: Dann müsste auch für jede Zahl z gelten 0 - z = z. Und das ist ja offensichtlich nicht der Fall.

D: Aber für z = 0 stimmt es doch!

A: Damit ein Element neutral bezüglich einer Verknüfung heißt, muss es bei der Verknüpfung aus jedem Element x wieder dieses Element x produzieren; ein einziger Fehlschlag und der Titel "neutrales Element" geht flöten.

D: Ganz schön stressig für so ein neutrales Element: Tausend Mal hat es geklappt, dann taucht aus der Tiefe des Vektorraums irgend so ein finsteres Element auf, veranlasst die Verknüfung mit dem bisher anerkannten neutralen Element, und wenn es dabei nur ein klitzekleines Bisschen verändert wird, ist das neutrale Element entthront.

A: Deswegen wird bereits vor der Inthronisation überprüft, ob dieses Element wirklich neutral ist, so dass solche unangenehmen Überraschungen nicht zu befürchten sind. In Anlehnung an die die Eigenschaft der Zahl null, beim Addieren nichts zu verändern, bezeichnet man dieses neutrale Element übrigens als Nullvektor.

D: Test 4 überprüft also, ob die Menge einen neutrales Element hat. Das war im Pharaoraum Nofretetes Kopf und im Goetheraum das Zauberquadrat mit Nullen in allen neun Feldern. Kann ich denn mit meinem ggT-Beispiel auch noch mithalten?

A: Wenn wir uns ein bisschen einschränken, schon. Wir nehmen einfach nicht alle natürlichen Zahlen, sondern zum Beispiel nur die Zweierpotenzen 1, 2, 4, 8, 16, .. bis 1024. Diese Menge hat bezüglich der Verknüpfung ggT dann ein neutrales Element.

D: Welches denn? Die 1 kann es nicht sein, denn dann müssten 4 und 1 den ggT 4 haben, was wohl nicht der Fall ist.

A: Denk mal bis zum nächsten Gespräch darüber nach.

D: Aber es fehlt uns doch noch ein Test für die Addition im Vektorraum. Ich weiß jetzt, dass die Menge gegenüber der von uns definierten Addition abgeschlossen sein soll, dass Kommutativ- und Assoziativgesetz gelten und dass es ein neutrales Element geben muss, das wir als Nullvektor bezeichnen. Was ist der fünfte Test?

A: Prudentia, Temperantia, Fortitudo, Justitia.

D: Ich möchte nicht die Namen deiner Töchter oder Freundinnen kennenlernen, sondern den fünften Test.

A: Du hörtest die Namen der vier Kardinaltugenden; wenn du auch noch die erforderliche Patiencia aufbringst, bist du bereit für den fünften und schwierigsten Test zur Addition.

D: Und was heißt das schon wieder?

A: Geduld!

Ende des siebenten Gesprächs über Vektoren.