Dem Vektor auf der Spur - Neuntes Gespräch über Vektoren

D: Wenn ich bedanke, dass dies bereits unter neuntes Gespräch auf dem Weg zum Vektor ist und das uns dieser Weg noch nicht einmal zu allen Eigenschaften der sogenannten Addition geführt hat, dann steigen in mir Zweifel auf, ob wir noch zu deinen Lebzeiten zum Abschluss der Grunddefinitionen kommen, - zumal du heute auch noch etwas ungesund aussiehst.

A: Sorge dich nicht; wenn wir uns heute verabschieden, wird die Addition im Vektorraum einschließlich des noch fehlenden fünften Tests fest in deinem Inneren verankert sein. Dir fehlt eigentlich nur noch die richtige Vorstellung von sich gegenseitig ausgleichenden Partnern.

D: Partner gleichen sich doch nicht aus, sondern verstärken sich gegenseitig, sie gehen zusammen durch dick und dünn und ziehen am gleichen Strick.

A: So ist das gelegentlich im richtigen Leben. Aber hier geht es um Partner, die vielleicht am gleichen Strick ziehen, aber an verschiedenen Enden mit gleicher Kraft in entgegengesetzten Richtungen.

D: Dann bewegt sich doch gar nichts, - oder das Seil reisst.

A: Solche Partner nennen wir Gegenelemente, oder speziell im Vektorraum Gegenvektoren. Zwei Elemente eine Vektorraums heißen Gegenvektoren, wenn ihre Summe der Nullvektor, also das neutrale Element der Addition im Vektorraum ist.

D: Etwas derart Einfaches hast du so lange hinausgezögert? Das kenne ich doch seit Klasse 7 von der Einführung der negativen rationalen Zahlen. Auf dem Zahlenstrahl gibt es zu jeder Zahl eine Gegenzahl, die durch Spiegelung am Nullpunkt erhalten wird. Und die Summe von einer Zahl und ihrer Gegenzahl ist immer null. Und genauso hat jeder Vektor seinen Gegenvektor?

A: Ganz so einfach ist es nicht. Es ist ein Unterschied, ob wir erklären, dass jeder Vektor "seinen" Gegenvektor hat, oder ob wir verlangen, dass es zu jedem Vektor a einen Vektor b gibt, so dass a und b Gegenvektoren sind, also a + b = o gilt.

D: Das ist doch nur eine Variante in der Formulierung, aber die Aussage ist doch genau die gleiche. Ob ich sage, dass jedes Mitglied im Verein "Make love, not war" seine Freundin zum Clubfest mitgebracht hat, oder ob ich feststelle, dass sich die Gäste bei diesem Clubfest in befreundete Paare aufteilen lassen: Es ist doch kein Unterschied.

A: Ist es denn ein Unterschied, ob du sagst: "Ich gehe jeden Abend mit meiner Freundin aus" oder "Ich gehe jeden Abend mit einer Freundin aus."?

D: Klar macht das einen gewaltigen Unterschied. Ich brauche mir nicht für jeden Abend ein neues Gesprächsthema auszudenken, und die Abwechslung ...

A: Uns geht es hier nur um die logische Struktur. Im ersten Fall sagst du implizit, also gewissermaßen verpackt, dass du nur eine Freundin hast, also - mathematisch gesprochen - die Anzahl deiner Freundinnen genau eins beträgt.

D: Und im zweiten Fall sage ich, dass ich mehrere Freundinnen habe?

A: Nein, auch im zweiten Fall könnte jeden Abend die gleiche Freundin deine Begleiterin sein, aber auch der Fall von mehreren Freundinnen ist nicht ausgeschlossen. Die zweite Aussage ist - im Gegensatz zu deiner Sicht der Abende - weniger scharf.

D: Aber wie das Beispiel am Zahlenstrahl zeigt, gibt es doch auch zu jeder Zahl nicht nur einfach eine Gegenzahl, sondern eine und nur eine, also genau eine Gegenzahl. Denn jede andere Zahl ist doch größer oder kleiner , - und liefert damit auch eine größere oder kleinere Summe, also nicht auch null.

A: Was hat das mit der Eindeutigkeit bei Gegenvektoren zu tun?

D: Ist das denn da nicht genaus so?

A: Das ist eben die Frage, die wir erst noch beantworten müssen. Und ein Beispiel, sei es noch so suggestiv, kann nie eine allgemeine Begründung für eine Gesetzmäßigkeit liefern.

D: Aber bei deiner möglicherweise ganz unanschaulichen Verwurstung von zwei Elementen deines Vektorraums, die du als Addition bezeichnest, weiß man doch gar nicht wie sie erfolgt. Wie sollte man da eine solche Eindeutigkeit beweisen können?

A: Versuch es: Stell dir vor, wir haben einen Vektor a und zwei Vektoren b und c, wobei wir nur wissen, dass sowohl a und b als auch a und c Gegenvektoren sind, also den Nullvektor als Summe haben. Wir wissen also:

a + b = o und a + c = o. Unsere Aufgabe ist, daraus zu folgern, dass b und c gleich sind.

D: Bei den Zauberquadraten ist es klar. Wenn in den Feldern von a die Zahlen a1, a2, a3, ... a9 und in den Feldern von b und c die Zahlen b1, b2, b3, ... b9 und c1, c2, c3, ... c9 stehen, dann ergibt die Addition:

a1
a2
a3
a4
a5
a6
a7
a8
a9
b1
b2
b3
b4
b5
b6
b7
b8
b9
a1+b1
a2+b2
a3+b3
a4+b4
a5+b5
a6+b6
a7+b7
a8+b8
a9+b9
0
0
0
0
0
0
0
0
0
. Das Ergebnis ist nur dann der Nullvektor, also , wenn gilt:
+
=

a1 + b1 = 0, a2 + b2 = 0, ..., a9 + b9 = 0, also wenn b1 = -a1, b2 = -a2, ... ,b9 = -a9. Das Gleiche gilt für die Zahlen c1, c2, c3, ...c9 anstelle von b1, b2, b3, ... b9 . Also ist b1 = c1, b2 = c2, ... ,b9 = c9 und somit b = c, quod erat demonstrandum.

A: Sehr eindrucksvoll. Aber du erinnerst dich an unsere Überlegung, die Untersuchungen im Vektorraum nicht an einem Spezialfall, sondern allgemein zu führen, damit die Ergebnisse für alle Vektorräume gültig sind. Du hast aber speziell den Goetheraum mit seiner spezifischen Addition gewählt. Jetzt wissen wir, dass es dort nicht zwei verschiedene Gegenvektoren zu einem Vektor a geben kann. Was hilft uns das bei der Erkenntnis der Verhältnisse in beliebigen Vektorräumen?

D: Zugegebenermaßen nichts, aber immerhin wissen wir doch etwas mehr über den Goetheraum.

A: Aber diese Überlegung wäre überflüssig geworden, wenn du stattdessen den Nachweis für einen beliebigen Vektorraum, also ohne weitere Voraussetzungen außer dem Bestehen der Tests 1 bis 5 geführt hättest.

D: Schade; ich war richtig stolz auf den Beweis; aber vermutlich geht es allgemein doch ganz ähnlich. Deine Forderung war: Folgere aus a + b = o und a + c = o, dass b und c gleich sind.
Meine Lösung:

Da a + b und a + c beide den Wert o ergeben, muss a + b = a + c gelten.
Ich subtrahiere auf beiden Seiten a und erhalte b = c, also das, was zu beweisen war. Richtig?

A: Leider falsch!

D: Aber warum?

A: Das herauszufinden, dauert sicher für dich einige Zeit, so dass wir den Beweis, dass es zu einem Vektor nicht zwei verschiedene Gegenvektoren geben kann, beim nächsten Mal führen sollen. Für diesen Nachweis, der eine Zeile lang ist, braucht man übrigens das Assoziativgesetz. Ruf es dir noch einmal in die Erinnerung zurück und präsentiere mir dann beim nächsten Mal die Lösung.

D: Ich schlage vor, dass du mir die Lösung nennst, am besten gleich, denn nach dem Beweis für die Eindeutigkeit des neutralen Elements traue ich mir noch nicht genug logische Taschenspielertricks zu.

A: Es bleibt dabei: Ein Wort, ein Satz -: Aus Chiffren steigen ** erkanntes Leben, jäher Sinn, ** die Sonne steht, die Sphären schweigen, ** und alles ballt sich zu ihm hin. **** Ein Wort - ein Glanz, ein Flug, ein Feuer, ** ein Flammenwurf, ein Sternenstrich - ** und wieder Dunkel, ungeheuer, ** im leeren Raum um Welt und Ich. 

D: Hört sich geheimnisvoll an: Ist das der Beweis für die Eindeutigkeit des Gegenvektors, verschlüsselt wie das Zauberquadrat im Faust?

A: Nein, deine Frage ist der Beweis für deine Unkenntnis der expressionistischen Lyrik, - aber diesen Lücken rücken wir ein anderes Mal zu Leibe; unser Motto wird dann heißen: Nicht pennen, bennen!

Ende des neunten Gesprächs über Vektoren.