Im Visier: Der Vektor - Zweiundzwanzigstes Gespräch über Vektoren

D: Diese Geschichte mit der linearen Hülle hat mich noch beschäftigt; unter Umständen kann man da ja mit wenigen einfachen Vektoren innerhalb eines überdachenden Vektorraums V interessante Unterräume erzeugen. Wählt man z.B. in unserem Funktionenraum RR als Teilmenge T die Menge der Potenzfunktionen, so erhält man als lineare Hülle die Menge der ganzrationalen Funktionen. Und wählt man für ein abgeschlossenes Intervall A innerhalb von RA als T die Menge der Funktionen, die auf einem Teilintervall von A konstant sind und sonst den Wert null haben, dann ergibt sich als lineare Hülle die Menge der Treppenfunktionen, die wir im Unterricht bei der Einführung der Integralrechnung kennengelernt haben. Gibt es eigentlich ein Symbol für die "lineare Hülle von T" ?

A: Man verwendet manchmal spitze Klammern, schreibt also <T> oder auch span(T). Anstatt zu sagen "die lineare Hülle von T ist V", verwendet man auch die Formulierung "T ist ein Erzeugendensystem von V", weil T ja aus Vektoren bestzent, welche die Elemente von V mit Hilfe von Linearkombinationen erzeugen können.

D: Für eine feste natürliche Zahl n bildet dann also zum Beispiel die Menge der Potenzfunktionen vom Grade <n ein Erzeugendensystem der ganzrationalen Funktionen vom Grade <n ?

A: Ja. Wenn wir also die auf der jeweils aktuellen Argumentmenge A durch x |--> xn definierte Potenzfunktion mit pn bezeichnen (wenn also für jedes x aus A gilt pn(x) = xn) und wenn Pn die Menge der ganzrationalen Funktionen vom Grade <n ist, dann ist {p0, p1, p2, ..., pn} ein Erzeugendensystem von Pn. Aber zum Beispiel ist nicht nur {p0, p1, p2} ein Erzeugendensystem von P2 , auch die Menge {p0, p0+2p1, p0+5p1+8p2} hat die lineare Hülle P2.

D: Bei der Menge {p0, p1, p2} sehe ich natürlich sofort, dass sich als Linearkombination der Elemente jede ganzrationale Funktion von höchstens zweitem Grade erzeugen lässt. Aber wie zeige ich, dass auch {p0, p0+2p1, p0+5p1+8p2} die lineare Hülle P2 hat?

A: Indem du angibst, wie die Koeffizienten bei der Linearkombination dieser Vektoren zu wählen sind, damit eine vorgegebene ganzrationale Funktion höchstens zweiten Grades, also eine Funktion der Form a0 + a1p1 + a2p2 erhalten wird.

D: Und wie muss man dann diese Koeffizienten wählen?

A: Die Koeffizienten sind in diesem Fall a0-0,5a1-0,3125a2, 0,5a1-2,5a2 und 0,125a2, wie du durch Einsetzen nachprüfen kannst, - falls ich mich nicht verrechnet habe.

D: In diesem Fall glaube ich dir lieber einfach. Aber es gibt doch keinen vernünftigen Grund, ein Erzeugendensystem so unpraktisch zu wählen.

A: Leider kann man sich ein Erzeugendensystem nicht immer einfach aussuchen. Allerdings wird man in vielen Fällen ein gegebenes Erzeugendensystem vereinfachen, wenn sich daraus Vorteile für konkrete Berechnungen ergeben.

D: Ist denn jetzt auch {p0, p1, p2, p0+2p1, p0+5p1+8p2} ein Erzeugendensystem von P2 ?

A: Sicher, denn einerseits kannst du natürlich jeden Vektor aus P2 als Linearkombination dieser Vektoren erhalten, andererseits liegen alle Vektoren aus dieser Menge in P2, also auch alle ihre Linearkombinationen.

D: Aber man schleppt doch in diesem Erzeugendensystem unnötig viel Ballast mit; darf man nicht einfach überflüssige Vektoren aus einem solchen System entfernen?

A: Wann nennst du denn einen Vektor f aus einem Erzeugendensystem überflüssig?

D: Wenn man die gleiche lineare Hülle erhält, nachdem man f gestrichen hat. Wenn also für das Erzeugendensystem T mit Element f gilt: <T\{f}> = <T> .

A: Dann ist f in der Tat entbehrlich. Das Erzeugendensystem ist dann noch nicht "minimal".

D: Also ein minimales Erzeugendensystem ist ein solches, bei dem man kein Element entfernen kann, ohne dass gleichzeitig eine Veränderung der linearen Hülle erfolgt.

A: Wenn der Vektor f des Erzeugendensystems T unseres Vektorraums V in diesem Sinne entbehrlich ist, kann mit jeden Vektor aus V als Linearkombination von Vektoren aus T\{f} darstellen. Insbesondere lässt sich also f für eine geeignete Zahl n als Linearkombination der Form r1f1 + r2f2 + ... rnfn mit reellen Zahlen r1, r2,..., rn und Vektoren f1, f2, ..., fn aus T\{f} darstellen. Oder geringfügig umgeordnet: r1f1 + r2f2 + ... rnfn - 1.f = o. Wir haben damit eine Darstellung des Nullvektors als Linearkombination von f1, f2, ..., fn , f.

D: Das ist aber doch nichts Besonderes. Den Nullvektor kann man doch als Linearkombination beliebiger Vektoren darstellen, indem man allen Koeffizienten bei der Linearkombination den Wert null gibt.

A: Was du beschreibst, ist ein ziemlich uninteressanter Fall, in dem man auch von der trivialen Darstellung des Nullvektors als Linearkombination der jeweiligen Vektoren spricht. In unserem Beispiel ist aber mindestens einer der Koeffizienten, nämlich der Faktor 1 vor f verschieden von o.

D: Und das ist dann eine nichttriviale Darstellung des Nullvektors?

A: Richtig; allgemeiner als in unserem Beispiel kennzeichnet man den Fall, dass sich der Nullvektor auf nichttriviale Weise als Linearkombination von Vektoren einer Menge darstellen lässt: Die Menge heißt in diesem Fall linear unabhängig.

D: Und ein minimales Erzeugendensystem ist linear unabhängig ...

A: .. und umgekehrt. Wir haben uns eben schon überlegt, dass ein nicht-minimales Erzeugendensystem linear abhängig ist. Wir müssen jetzt noch zeigen, dass umgekehrt ein linear abhängiges Erzeugendensystem nicht minimal ist. Willst du es mal versuchen?

D: Wenn das Erzeugendensystem T nicht linear unabhängig ist, dann gibt es in T Vektoren f1, f2, ..., fn, aus denen man den Nullvektor auf nichttriviale Weise linear kombinieren kann. - Aber geht das denn nicht immer? Ich brauche doch nur z.B. f1 = f2 aus T zu wählen, dann ist doch 1.f1 + (-1).f2 = o?

A: Du darfst natürlich keinen Vektor aus T mehrfach verwenden. Du wählst also eine endliche Teilmenge von T und versiehst dann die Elemente dieser Teilmenge mit Koeffizienten für die Linearkombination.

D: Ich habe also eine Gleichung der Form r1f1 + r2f2 + ... rnfn = o.

A: Wobei mindestens einer der Koeffizienten r1, r2,..., rn von null verschieden ist. Wir könnten also so nummerieren, dass zum Beispiel r1 verschieden von null ist. Dann führt aber eine einfache Umformung der Gleichung zu f1 = s2f2 + ... snfn , wobei si für i = 2, 3, ..., n für -ri/r1 steht. Du kannst also in jeder Linearkombination, in der f1 vorkommt, diesen durch s2f2 + ... snfn ersetzen. Das bedeutet, dass f1 überflüssig ist und aus T entfernt werden kann. T war also nicht minimal, und das war zu zeigen.

D: Aber wenn du in einer Linearkombination f1 durch s2f2 + ... snfn ersetzt, kommt doch möglicherweise einer der Vektoren f2, ..., fn mehr als einmal in der Linearkombination vor. Hattest du das vorhin nicht ausgeschlossen?

A: In diesem Fall ist es belanglos; aber wenn es dich stört, dass in der Linearkombination zum Beispiel rf und sf vorkommen, kannst du das ja zu (r+s)f zusammenfassen.

D: Was heißt belanglos? Entweder dürfen die Elemente des Erzeugendensystems mehrfach aufgeführt werden oder nicht. Woher soll man denn sonst wissen, wann das erlaubt ist und wann nicht?

A: Ich habe das Gefühl, ich habe dir heute ein wenig viel zugemutet. Die Pause bis zum nächsten Gespräch wird uns sicher beiden gut tun.

Ende des zweiundzwanzigsten Gesprächs über Vektoren.